Erich 1990

Epilog
„Ich hatte das Glück, dass trotz der enormen Zerstörung das Atelier als mein Lebensmittelpunkt noch bis zum Frühjahr 1945 bestehen blieb. Als es nicht mehr auszuhalten war in dieser Stadt, schaute ich noch einmal in alle Schubladen und Regale, um sicher zu gehen, dass alles mir Wertvolle auch in meinem Besitz war. Als ich nun so einige alte Erinnerungen genoss, fand ich ein schwarzes Notizbuch in einer der Schubladen. Es war vollgeschrieben mit der fast unleserlichen Schrift Norberts. Und ich nahm es mit, als einen meiner Schätze.“
Er atmete tief ein, als fühlte er gerade jedes Wort von diesem Buch, das auf seinem Schoß lag. Er wirkte sehr klar und konzentriert in dem, was er sagte und wie er es aussprach.
„Vor einigen Jahren, also fast 30 Jahre später, holte ich es aus einer Truhe, die auf meinem Wohnzimmerschrank stand und begann es zu lesen. Und ich war erstaunt. Noch in seiner Abwesenheit konnte mich Norbert überraschen.
Es war so etwas wie ein Tagebuch oder besser ein Gedankenbuch. Er hatte dort sporadisch, keinem Kalenderzwang folgend, einige seiner Gedanken und Eindrücke wichtiger Lebensereignisse skizziert.“
Ich war etwas irritiert, warum erzählte er mir das? Er musste schon sehr alt sein, aber keiner in der Nachbarschaft wusste etwas Genaues. Er lebte zurückgezogen in dieser kleinen Wohnung, bescheiden eingerichtet mit Möbeln, die zu einer Zeit geschreinert waren, in der ich noch gar nicht auf dieser Erde wandelte.
Die Gardinen vor den Fenstern des Wohnzimmers ließen nicht mehr viel Tageslicht in den Raum. Es war sowieso ein grauer Novembertag und so bot sich ein nur schemenhafter Anblick.
Auffällig waren die vielen Bilder, die an den Wänden hingen, eingerahmt oder auch nur so an den Putz geheftet. Und auch sonst lagen sie zerstreut auf Tischen und Sesseln und allen möglichen Regalen und Ablagen herum. Es waren übergroße Formate, meist schwarz-weiß oder etwas farbig koloriert.
Der alte Mann lächelte, und wartete. Ich schämte mich ein wenig, dass ich ihm nicht der würdige Gesprächspartner war, damals, mit Anfang 20. Und ich wollte mich nun bemühen, konzentrierter seiner Erzählung zu lauschen.
„Er hatte wohl ein viel tiefgründigeres Wesen, der Norbert, in allem was er nach außen darstellte. Aber das ist doch immer so, nicht wahr? Wir kennen nie die ganze Geschichte eines Menschen, und urteilen trotzdem immer über das, was wir meist in nur kurzer Zeit davon empfangen – Schublade auf, einsortieren und Schublade zu. Der Mensch und sein Verhalten sind in unserem Gehirn nun aktenkundig verschlossen.“
Er schaute mich an, aber er sah mich nicht, entrückt war er in seine Gedankenwelt. Doch ich nickte und schaute auf den Papierstapel, auf den er das Notizbuch nun legte.
„Das Leben – ja vor allem das Zusammenleben mit unseren Mitmenschen bietet so viel mehr, wir können so viel mehr lernen von den uns fremden Ansichten und Meinungen. Wir sollten bereitwillig annehmen und nicht ablehnen, denn sonst lernen wir nichts dazu und können uns nicht weiterentwickeln, im Sinne eines friedlichen, herzlichen Miteinander zum gegenseitigen Wohle.“
Der alte Mann beugte sich vor, als wolle er in der Nähe seiner aufgeschriebenen Erinnerungen bleiben, die nun allesamt zwischen ihm und mir auf dem Tisch lagen.
„Was ich hier aus dem Gedächtnis des Erlebten heraus aufgeschrieben habe, gibt bestimmt nicht mehr vollständig das wieder, was damals geschah. Vieles ist verblasst. Weißt du – Erinnerungen verblassen eben, wie Fotografien, die nach Jahren ihre Farbe verlieren, so verliert die Erinnerung an Brillanz, an Detailgenauigkeit. Ich habe mir also erlaubt, den geschichtlichen Urgrund mit etwas Fantasie zu füllen“, lächelte er bedeutungsvoll und zog dabei die Augenbrauen hoch.
„Weißt du, es hat sie alle gegeben, diese Personen. Aber zum Erlebten wird nebensächlich Erfahrenes und Gehörtes wohlmöglich zu einer ausführlich erzählten Begebenheit. Vielleicht um zu unterhalten und nicht nur Geschichte zu schreiben.“
Er lächelte und setzte sich nun wieder zurück, atmete ruhig ein und aus. Ich nahm den Papierstapel vorsichtig vom Tisch und legte ihn auf meinen Schoß.
Dort stand ganz oben ein Text, der in Großbuchstaben geschrieben war:
ES SIND DIE MOMENTE, DIE UNS AUSMACHEN, DIE WIR ERLEBEN, NICHTS DARÜBER HINAUS IST WIRKLICH. UND VERGANGENES IST VERGANGEN, HAT UNS GEPRÄGT FÜR EINEN MOMENT. NUR DAS IST ES, DAS IST LEBEN.
Von Norbert Kranz, dem einzig wahrhaften Freund – in ewiger Verbundenheit
Das Manuskript in Schreibmaschinenschrift und das handgeschriebene Notizbuch blieben noch 30 Jahre ungelesen. Vergessen in der jugendlichen Leichtigkeit Ende 1990.
